Shroud

Jodie Carey

Tieranatomisches Theater

Die raumgreifende Installation aus 250 kg tierischer Knochenasche nimmt sich auf über 300 qm dem historischen Ort des Tieranatomischen Theaters an: ein Akt fragiler Massivität, eine Erforschung der Stofflichkeit des Vergänglichen

Die Arbeiten der britischen Künstlerin Jodie Carey umkreisen immer wieder die komplexe Dynamik zwischen Erinnerung und Vergessen. Ihre Werke stellen sowohl den Versuch dar, dem Prozess des Verschwindens nachzuspüren als auch ihm etwas entgegenzusetzen und einen Augenblick des Bewahrens zu schaffen. Dabei verwischt die Künstlerin die Grenzen zwischen forschend-dokumentarischen und poetisch-narrativen Elementen, indem sie beides behutsam miteinander verwebt.

 

Die Materialien, mit denen Carey arbeitet, bilden den konzeptionellen Kern ihres Schaffens. Symbolisch stark aufgeladene Stoffe wie Blut oder Knochenstaub finden bei der Künstlerin ebenso Verwendung wie Materialien, die zunächst dem Kreis des Alltäglichen, ja Gewöhnlichen, zuzuordnen sind, wie Staub oder die Asche einer Zigarette. Die Materialien überschreiten dabei jedoch stets die Ebene der reinen Stofflichkeit: Sie sind immer auch ein konkreter materieller Teil jenes Momentes oder Objektes, mit dem sich Carey auseinandersetzt. Ganz so wie religiöse Reliquien sind ihre Arbeiten nicht nur ein symbolischer Verweis, sondern immer auch ein faktischer Träger einer materiellen Essenz. In dieser Duplizität findet jene Verdichtung des Erinnerns statt, die Careys Arbeiten auszeichnet.

 

Dabei fungieren die Werke nie als Ersatz, nie als ein Objekt, durch das sich das Verschwindende vollständig einfangen ließe. Die Arbeiten entziehen sich mit aller Kraft der Versuchung, statische Denkmäler zu sein, reine ästhetische Repräsentanz dessen, was nicht mehr ist. Sie sind vielmehr ein tief melancholischer Verweis auf eine Leere, einen Verlust. Das, was nicht mehr ist, muss folglich immer mitgedacht werden und wird zum nicht direkt fassbaren Teil des Werkes. Careys Arbeiten spiegeln somit auf besondere Weise unser persönliches Verlangen nach einem bedeutungsvollen, vielleicht sogar würdevollen Umgang mit den Dingen und Momenten, die wir über das Zeitliche hinaus bewahren wollen.

 

Mit der eigens für das Tieranatomische Theater entworfenen Arbeit Shroud gelingt es Carey, den Ort entlang der thematischen Grundlinie ihres Werkes neu zu vermessen. Die Künstlerin durchleuchtet damit nicht nur ihr eigenes Werk, sondern vor allem auch die besondere Atmosphäre des Tieranatomischen Theaters.

 

Das Tieranatomische Theater ist eines der bedeutenden historischen Gebäude der Berliner Kulturlandschaft: Konzipiert von Carl Gotthard Langhans im Auftrag von König Friedrich Wilhelm II., entstand es 1789/90 zeitgleich mit dem ebenfalls von Langhans entworfenen Brandenburger Tor. Der überkuppelte und kunstvoll gestufte Hörsaal bildet dabei das Herz dieses architektonischen Meisterwerks des Berliner Frühklassizismus, welches sich auf dem historischen Campus zwischen der Invalidenstraße und der Friedrichstraße befindet. Das Tieranatomische Theater ist heute das älteste erhaltene Lehrgebäude Berlins und nimmt damit einen herausragenden Platz in der kulturellen Geschichte der Stadt ein. Eröffnet als Teil der königlichen Tierarzneischule wurde es später in die veterinärmedizinische Fakultät der Humboldt-Universität eingegliedert und diente somit über Jahrhunderte hinweg als Ort universitärer Forschung und Lehre. Nach einer beispielhaften Sanierung und Restaurierung des denkmalgeschützten Hauses in den Jahren 2005 bis 2012 wird das Tieranatomische Theater heute vom Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (Humboldt-Universität zu Berlin) für ausgewählte Ausstellungen genutzt. Shroud (dt. u.a. Leichentuch, Tuch, Verhüllung) ist die erste Präsentation zeitgenössischer Kunst in der über 200-jährigen Geschichte des Hauses.

 

Als Material für die präzise auf das Haus zugeschnittene Installation verwendet die Künstlerin Staub, der zu großen Teilen in aufwendiger Handarbeit von ihr selbst aus Knochen gewonnen wurde. Die hauchdünn aufgetragene Schicht vermittelt dabei einen Eindruck fragiler Leichtigkeit, der allein durch die raumgreifende Geste der massiven Arbeit wieder gebrochen wird: Über 250 kg Knochenasche erstrecken sich auf fast 300 qm Ausstellungsfläche. Von jener Stelle im großen Auditorium ausgehend, an der früher die Seziertische aus dem Kellergeschoss des Hauses in den Vorlesungssaal hinaufgefahren wurden, scheint die Arbeit förmlich in die umliegenden Räumlichkeiten bis in die alte Bibliothek hineinzufließen. Die Formen des Hauses annehmend, respektiert die behutsame Installation ästhetisch und konzeptionell die architektonische Integrität des historischen Ensembles, so dass das Haus hier nicht allein als Ausstellungsort in Erscheinung tritt, sondern als Teil der Arbeit selbst in den Fokus rückt. Carey geht mit ihrer Arbeit offensiv auf den Raum ein und anstatt ihn nur zu überschreiben, spricht die Künstlerin mit dem Ort und durch ihn hindurch. Mit Hinblick auf die reiche Nutzungsgeschichte des Hauses macht die Installation den Versuch, den Ort atmosphärisch aufzuladen und das, was nicht (mehr) zugänglich ist, sichtbar zu machen. Damit bringt die Künstlerin einen Moment des Erinnerns und Festhaltens in den Ort ein. Sich behutsam über die Räumlichkeiten legend, fungiert der feine Knochenstaub in diesem Sinne als Verweis auf die dichte Historie des Gebäudes. Letztlich weist die Arbeit aber auch über ihren konkreten Kontext hinaus und entwickelt eine Erzählung über die Tiefe der Geschichte eines Ortes ganz im Allgemeinen.

 

So wie Careys Arbeit sich immer wieder mit den Mechanismen der Vergänglichkeit und ihrer Darstellbarkeit auseinandersetzt, so ist das Tieranatomische Theater ein Ort, der seit jeher der Erforschung eben jener Fragen gewidmet ist. Es ist diese Schnittstelle, an der sich der Dialog zwischen Arbeit und Raum entspinnt und von der ausgehend sich die Installation und der räumliche Kontext zu einer eigenständigen Position verbinden. Als Ort, an dem die grundsätzlichen Fragen nach den Dynamiken des Lebendigen stets im Fokus standen, nimmt das Tieranatomische Theater fast wie selbstverständlich die melancholisch-forschende Arbeit Careys in sich auf. In gleichem Maße wie die frühneuzeitliche und moderne Medizingeschichte mehr war als eine reine Entdeckung von Fakten, sondern immer auch eine kontroverse Spiegelung eines bestimmten Weltbildes und Selbstverständnisses, so changiert auch Careys Blick immer wieder zwischen Forschung und Poesie, zwischen reiner Abbildung und Interpretation.

 

Jodie Carey schafft mit Shroud eine Arbeit, die in zugespitzter Art und Weise die Thematik ihres Werkes aufgreift – an einem Ort, der sich wie kaum ein anderer auf ihre Erzählung einlässt. Shroud ist damit eine Arbeit, die exemplarisch auf Fragen verweist, die sowohl den Ort als auch die Künstlerin immer wieder geprägt haben.

 

Shroud
Jodie Carey
Tieranatomisches Theater
16.07.–27.07.2013

 

In Zusammenarbeit mit
Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik
Galerie Rolando Anselmi

 

Jodie Carey erschließt die Zootomie vom Boden her. So simpel wie wirkungsvoll vereinnahmt sie die Räume und verleiht ihnen eine Wirkung, die von der Erfahrung der freien und des versperrten Zugangs sowie des sich darüber hinwegsetzenden Blickes herrührt. Bewegungsrichtungen und Sichtachsen werden vorgegeben und formen die Raumerfahrung – einmal entlang der begeh- und einsehbaren Bereiche und dann wiederum, wenn das nicht ausreicht, sich von dem bedeckten Boden abhebend und nach oben weisend. Der Raum gewinnt schließlich seine Kraft vom bedeckten Boden her. Dafür muss er sich jedoch keinesfalls eines Zutritts wehren, jedenfalls nicht, wenn kein so fragiles Material wie Knochenmehl diese Wirkung aufrechterhält.
— Castor & Pollux, Matthias Planitzer

 

Carey relishes these experiences of exhibiting outside of the white cube, and for the Humboldt site she was taken with not only the space’s architecture (the Veterinary Anatomical Theatre was designed by Carl Gotthard Langhans, designer of the Brandenburg Gate) but also its historical use. […] Carey’s oeuvre consistently addresses themes of mortality and human understanding and ritualisation thereof. In conceptualising these questions, she uses a range of materials, though drawn towards those with symbolic significance like flowers, ash and blood. How to remember, how to memorialise that which has passed: these issues are as old as the human race. The artist has most recently been preoccupied with the idea of the monument and specifically with challenging their status as eternal Ozymandias-esque memorials. Instead, she creates temporary and decaying narratives of remembrance, echoes in themselves of the passing of time.
— Sleek Magazine, Josie Thaddeus-Johns

 

Das Werk ist vielschichtig wie die Geschichte des Ortes. […] Mit Careys Werk im Anatomietheater lenken die „Neuen Berliner Räume“ den Blick auf Kunst und gleichzeitig auf ein eindrucksvolles medizinhistorisches Relikt.
— Hannoversche Allgemeine Zeitung, Johanna di Blasi

 

Jodie Carey versucht eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was war, und der Leere, die folgt.
— Der Tagesspiegel, Birgit Rieger